Klavier spielen ohne Noten
Klavier spielen ohne Noten – geht das überhaupt?
Ja, natürlich geht das: Klavierspielen – frei und ohne Noten, ganz nach Intuition. Auch wenn das manchen Ohren eine ketzerische Aussage ist, bei der sich insbesondere bei so manchem Klassikfan der Magen umdreht. Oft werde ich darauf angesprochen, wie das funktionieren soll und ob diese Aussage nicht ein wenig vermessen sei. Ich kann aber bereits vorgreifen: Klavierspielen ohne Noten ist weder vermessen noch unmöglich. Der Schlüssel dazu liegt in unserer Intuition.
Um es gleich zu Beginn deutlich zu machen: Ich persönlich finde Noten super! Ich möchte diese Art des Festhaltens und Übermittelns von Musik nicht missen und bin froh, sie als Kind gelernt zu haben. Aber: Ich bin ebenso davon überzeugt, dass du sie nicht brauchst, um Pop-Piano spielen lernen zu können! Kannst bereits Noten lesen – umso besser! Jedoch es ist viel elementarer für dich, Klavier nach Gehör spielen zu können, also Gehörtes nachzuahmen und umsetzen zu können.
Klavierspielen ohne Noten: die Vor- und Nachteile der Notenschrift
Vorteile:
- eine universelle Sprache, weltweit einsetzbar
- stellt rhythmische, tonale und harmonische Ereignisse genau dar
- hilfreich zum Merken und Übermitteln von Musik
Nachteile:
- verleitet zum reinen Abspielen der Noten statt zum Verständnis der musikalischen Zusammenhänge
- Noten können das Feeling von Musik nur ungenügend darstellen (genaue Phrasierung, Groove etc.)
Ich habe es häufig erlebt, dass gestandene, klassisch geschulte Pianisten Popsongs am Klavier spielen wollten. Mit einem gut notierten Klaviersatz (detailliert notiert für rechte und linke Hand), sind sie selbstverständlich in der Lage, die Töne und den Rhythmus richtig zu spielen, aber irgendwie fehlt dabei oft der Groove und das Ganze will einfach nicht so richtig nach cooler Popmusik klingen.
Vergleichbar mit der Situation, in der ein Deutscher Portugiesisch spricht und obwohl er dabei Vokabeln und Grammatik völlig richtig benutzt, hören alle Umstehenden sofort, dass er eben kein Brasilianer ist. Musik ist eine Sprache, von daher finde ich diesen Vergleich immer ganz passend.
Klavier lernen ohne Noten: den Charakter eines Songs erfassen
Eine Sprache lässt sich nur bruchstückhaft in Schriftform darstellen. Vokabeln und Grammatik können dabei völlig richtig sein, aber die Aussprache, die Sprachmelodie, die Betonungen und der Sound bleiben dabei auf der Strecke. Und vielleicht kennst du das Gefühl: Du unterhältst dich mit jemandem, für den Deutsch eine Fremdsprache ist, und bist zwar von seinem Wortschatz beeindruckt, musst aber genau zuhören, um alles verstehen zu können, da seine Aussprache so anders klingt.
Jetzt mögen mir die Notenfetischisten an den Kopf werfen, dass Notenschrift viel genauer ist als ihr sprachliches Pendant. Und das ist mit Sicherheit auch richtig! Wie oben schon erwähnt, lässt sich Musik mit Noten genau darstellen, aber der Ausdruck wird nicht vollends transportiert. Selbst Zeichen wie Forte, Crescendo, Portato, Staccato, Ritardando etc. können nicht das Feeling und den Groove, also den Charakter eines Songs wiedergeben!
Klavierspielen ohne Noten mit piano-revolution.de
Wie lernst du nun Klavier und Popmusik zu spielen ohne Noten? Ganz einfach nach Gehör! So, wie jedes Kind seine Muttersprache erlernt: ohne Vokabelheft und Grammatikbuch. Einfach nur durch zuhören und nachahmen.
Kinder können beispielsweise innerhalb kürzester Zeit eine Sprache perfekt sprechen. Sämtliche Sprachen, die sie später lernen, werden sie nicht mehr auf diesem Niveau beherrschen. Natürlich kommt noch dazu, dass Kinder sich alles viel schneller und besser merken können und die Festplatte noch viel Speicherplatz hat – aber der „learning by doing“- oder eher „learning by hearing“-Effekt sollte dabei nicht unterschätzt werden!
Nochmal zurück zu diesem ursprünglichen Lernweg: Dir wird etwas gezeigt und du machst es einfach nach. Vielleicht ohne genau zu verstehen, warum das so geht und wie das funktioniert. Einfach erstmal Nachahmen, der Schritt des Verstehens kommt später.
TIPP
Ich habe auch immer wieder in meiner Tätigkeit als Klavierlehrer beobachten können, dass Kinder, denen ich das Akkordspiel vermittelt habe, viel unbefangener an die ganze Sache herangehen und im Gegensatz zu uns verkopften Erwachsenen nicht alles hinterfragen und sofort komplett verstehen wollen. Das kann sehr hilfreich sein.
Klavierunterricht mit Intuition: Klavier lernen nach Gehör
Nehmen wir mal an, du schaust eines meiner Tutorials, in dem ich erkläre, wie du mit vier Akkorden und einem bestimmten Rhythmus einen Song spielen kannst: Ich zeige dir dabei, wie du die Akkorde greifen musst und mit welchem Akkordsymbol (z.B. C7) sie sich im Leadsheet (also die Art, wie Popmusik häufig notiert wird) darstellen lassen. Und den Rhythmus spiele ich dir mehrfach vor und weise dich auf mögliche Fallstricke hin.
Damit weißt du erstmal alles, was du brauchst, um diesen Song spielen zu können. Klar ließen sich die Akkorde und der Rhythmus auch ganz klassisch in Notenschrift mit Violin- und Bassschlüssel notieren. Der Vorteil gegenüber einem klassischen Klavierunterricht nach Noten ist der, dass du siehst und vor allem hörst, wie ich das Ganze spiele. Und dann kannst du anfangen, genau auf die Details zu achten: Warum klingt es bei dir anders als in meinem Video? Bist du im Takt, wie laut und leise, lang und kurz spiele ich die einzelnen Akkorde, Akkordfolgen oder Töne? Und auf einmal bist du schon mittendrin, die Sprache der Popmusik zu lernen, weil du eben nicht nur etwas von Noten abspielst, sondern nach Gehör nachahmst und ein Gespür für den Song bekommst.
Warum wirst du Portugiesisch viel schneller und authentischer lernen, wenn du in Brasilien lebst, als wenn du daheim einen Kurs besuchst? Ganz einfach: In Rio de Janeiro hörst du den ganzen Tag, wie die Meister klingen!
Ein weiterer Vorteil ist, dass du dir automatisch Zusammenhänge merken musst, wenn du frei nach Akkorden spielst. Beispiel: Eine Akkordverbindung ist in den passenden Umkehrungen klassisch in Noten aufgeschrieben. Was macht der klassisch geschulte Pianist? Er spielt sie flüssig von Noten ab; schließlich ist er darauf trainiert. Was er aber deswegen noch nicht kann, ist dieselbe Akkordverbindung nur in Symbolen notiert (z.B. C Fmaj7 Am7 Dm7 F/G) flüssig in nahe beieinander liegenden Umkehrungen zu spielen.
Das wiederum trainierst du automatisch, wenn du eben keine Noten vor dir hast, die dir haargenau vorschreiben, was du greifen musst. Wenn du stattdessen ein Leadsheet mit reinen Akkordsymbolenvorliegen hast und bei einer beliebigen Umkehrung von C-Dur anfängst, bist du ab diesem Zeitpunkt gezwungen, möglichst schnell die passenden Umkehrungen der anderen Akkorde zu wissen. Und wenn du das eine Zeit lang gemacht hast, wird das fließend schnell gehen. Für mich persönlich sogar schneller, als wenn ich alles von Noten ablesen müsste.
Notenlesen in der Popmusik: muss ich das können?
Ein klares Jein ;). Ich persönlich bin wie gesagt der Überzeugung, dass du zum Erlernen und Vorankommen viel weiterkommst, wenn du nach Gehör spielen lernst. Falls du bislang keine Noten lesen kannst, bleibt dir ja auch erstmal gar nichts anderes übrig. Und falls du mit der Notenschrift vertraut bist, versuche sie doch erstmal außer Acht zu lassen und komme später wieder darauf zurück.
Ich nutze Noten beispielsweise gerne, um Melodielinien festhalten zu können. Sei es eine kleine Bewegung in einem Popsong oder vielleicht sogar ein ganzes Solo eines Jazzstandards. Das könntest du dir wiederum zwar auch alles merken, aber dabei helfen Noten tatsächlich, um es auch noch nach einiger Zeit abrufbereit zu haben. Trotzdem ist es gut, wenn du diese Stücke nach Gehör spielst – also mit dem „Originaldialekt“ und nicht nur von Noten abgespielt.
Lange Rede kurzer Sinn: Noten sind eine tolle Sache! Aber eben oft eher im Weg, wenn es darum geht, richtig Pop-Piano oder Klavier spielen zu lernen. Betrachte diesen Blogpost als Einladung, die Noten ruhig mal beiseitezulegen und mehr deinem Gehör zu vertrauen. Und wenn du dich mal auf diesen Weg eingelassen hast, wirst du feststellen, dass er tatsächlich funktioniert! In diesem Sinne – boa sorte, wie der Brasilianer sagen würde!
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